Interview mit Sebastian Tippe, Autor, Pädagoge, Dozent, Blogger, über sein Buch "Toxische Männlichkeit" (edigo Verlag, 2021)
Sebastian Tippe ist Diplom-Pädagoge und lebt in Hannover. Er arbeitet als Fachberater für Erziehungsstellen und Familienwohngruppen und war in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, in der offenen Kinder- und Jugendarbeit mit dem Schwerpunkt feministische Jungenarbeit sowie in einer Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt tätig.
Zudem ist er seit Jahren als Fachkraft bei Kindeswohlgefährdung gem. SGBVIII §8a gefragt. Sebastian Tippe hält Vorträge, gibt Webinare sowie Fortbildungen zum Thema Toxische Männlichkeit, bietet an Schulen geschlechterreflektierende Workshops an und schreibt für pädagogische und psychologische Fachzeitschriften. 2020 war er Mitgründer des Vereins SHESPECT – Unterstützung für Frauen bei Hate Speech und Sexismus e.V. Er bloggt auf www.FeministInProgress.de.
Herr Tippe, ein Mann, der sich feministischen Themen widmet und ein Buch über „Toxische Männlichkeit“ schreibt. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
S. Tippe: Keinesfalls. Ich finde es wichtig, deutlich zu machen, dass Männer sich nicht nur gegen Rassismus, Klimazerstörung oder gegen Antisemitismus einsetzen können, sondern auch für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung, Gewalt und Benachteiligung von Frauen. Daher richtet sich das Buch insbesondere auch an Männer.
Was sind typische toxische Verhaltensweisen von Männern und wie äußern sie sich?
S. Tippe: Typisch toxische männliche Verhaltensweisen sind beispielsweise, wenn Männer Frauen permanent unterbrechen, ihnen die Welt erklären, die Gedanken und die Ideen von Frauen als die eigenen ausgeben, um dafür Lob und Anerkennung zu erhalten (#hepeating), wenn Männer in Bewerbungsverfahren lieber den schlechter qualifizierten Mann einstellen als die gleich oder besser qualifizierte Frau. Wenn Männer in der Sexualität ihre eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen und die Bedürfnisse der Partnerin ignorieren, wenn sie der Meinung sind, dass sie per se etwas besser als Frauen könnten, wenn sie sexistische Sprüche machen, Frauen in der Sprache durch das generische Maskulinum unsichtbar machen, die Grenzen von Frauen überschreiten oder diese ignorieren, sie ohne Erlaubnis berühren und wenn Männer Pornos konsumieren und zu Prostituierten gehen. Diese Liste ließe sich noch beliebig fortführen.
In Ihrem Buch zeichnen insgesamt elf Erfahrungsberichte ein eindrückliches Bild von #Manspreading, #Whataboutism, #Hepeating, #Marginalisierung. Können Sie kurz diese Begrifflichkeiten erklären, die zunehmend stärker in den Fokus der öffentlichen Diskussion rücken?
S. Tippe: #Manspreading meint ein spezielles Verhalten von Männern, nämlich dass sie mit weit gespreizten Beinen zum Beispiel in der Straßenbahn sitzen und somit gleich mehrere Sitzplätze auf einmal blockieren. Dahinter steht, dass Männer selbstverständlich davon ausgehen, dass ihnen dieser Raum zustehen würde. Bei #Whataboutism wird vom eigentlichen Thema abgelenkt, dieses wird negiert oder kleingeredet. Auf die Argumente wird sachlich nicht eingegangen, eher werden Frauen noch herabgesetzt. #Hepeating bedeutet, dass Männer z.B. im Beruf die bereits von einer Frau vorgetragenen Ideen aufgreifen, die von anderen Männern als nicht umsetzbar oder nicht ernst zu nehmend abgetan wurden, und nun als die eigenen ausgeben. Männer werden dann für eben diese Vorschläge gefeiert und erhalten statt der Frau das Lob und die Anerkennung. #Marginalisierung steht für die gesellschaftliche Stellung von Mädchen und Frauen, da sie als weniger wert im Vergleich zu Jungen und Männern angesehen werden, als Mensch zweiter Klasse, und täglich in allen Lebensbereichen Benachteiligung, Diskriminierung und Gewalt erleben.
Denken Sie, dass toxische Männlichkeit ein Problem der „älteren Generation“ ist?
S. Tippe: Nein, toxische Männlichkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das in allen Lebensbereichen und allen Altersklassen präsent und somit für alle Jungen und alle Männer relevant ist.
Sie geben in Ihrem Buch viele praktische Tipps sowohl Männern, aber auch Eltern und PädagogInnen, wie toxische Persönlichkeitsanteile verändert werden können. Können Sie hierfür Beispiele geben?
S. Tippe: Für Männer ist es wichtig, dass sie sich zunächst eingestehen, dass wir in patriarchalen Strukturen leben, in denen sie bevorzugt, Mädchen und Frauen aber benachteiligt werden. Sie müssen erkennen, dass sie zu diesen Strukturen beitragen und von ihnen profitieren.
Mit diesem Wissen sollten sie in die Reflektion gehen und daran arbeiten, ihre Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern. Dazu gehört, sich beispielsweise mit ihren unterdrückten Gefühlen auseinanderzusetzen, an ihren Einstellungen bezüglich Frauen zu arbeiten, ihren Pornokonsum zu reflektieren und zu beenden, die unsichtbare Familienarbeit, die täglich von Frauen geleistet wird, zu sehen und diese mit zu übernehmen. Männer produzieren alltägliche Sexismen, die es zu erkennen und abzustellen gilt.
In der pädagogischen Praxis ist es wichtig, die nicht vorhandene Gleichstellung von Jungen und Mädchen in der Gesellschaft zu erkennen sowie patriarchale Denk- und Verhaltensweisen zu reflektieren und zu verändern. Hierbei ist es wichtig, aktiv mit den Jungen und den Mädchen über ihre Erfahrungen zu sprechen, über Rollenbilder, die Art, wie sie Beziehungen gestalten und über die Erwartungen, die an sie gestellt werden. Medien sowie die in der Schule verwendeten Materialien propagieren auch heute noch völlig überholte einseitige Geschlechtervorstellungen.
Sie halten Vorträge, Sie bloggen, Sie waren bereits in TV und Rundfunk präsent. Wie sind die Reaktionen der ZuschauerInnen? Und wie gehen Sie mit Drohungen, Hass und Hetze gegen Ihre Person um?
S. Tippe: Die Reaktionen sind größtenteils sehr positiv. Es muss aber auch klar benannt werden, dass die Rückmeldungen vor allem von Frauen kommen, was deutlich macht, dass es ein langer Weg ist, Männer zu erreichen, denn diese sind, wenn es um das Einsetzen für Gleichberechtigung geht, kaum zu finden. Natürlich erhalte ich auch andere Nachrichten: Regelmäßig schreiben mir antifeministische rechte Männer Hass-Nachrichten und Beleidigungen, gegen die ich rechtlich vorgehe und sie auch öffentlich mache. Diese Männer wollen ihre privilegierte Machtstellung auf keinen Fall abgeben und hetzen gegen alle, die sich für Gleichberechtigung einsetzen. Frauen kennen diesen Hass von Männern ja zur Genüge.
Hand aufs Herz, wie steht es denn um Ihre eigenen toxischen Anteile? Gibt es in Ihrem Alltag als männlicher Feminist auch Situationen, in denen Sie sich selbst hinterfragen müssen?
S. Tippe: Natürlich. Da alle Männer in einer patriarchalen Gesellschaft sozialisiert werden, gibt es keine Männer, die keine toxischen Anteile besitzen. Es ist ein lebenslanger Prozess, die eigenen problematischen Anteile zu erkennen, zu reflektieren und zu verändern.
Hier finden Sie das Interview als PDF zum Download.
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