Laut DAK-Kinder- und Jugendbericht stiegen bei 15- bis 17-jährigen Mädchen neu diagnostizierte Essstörungen um mehr als die Hälfte – bei 10–14-jährigen um ein Drittel. Bei Jungen gab es deutlich mehr neue Adipositas-Fälle. Unsere Autorin erklärt, warum die Pandemie Essstörungen verstärkt hat – und was Familien, Lehrkräfte und Politik tun können.
Frau Hasselmann, wie beurteilen Sie die Ergebnisse des Berichts?
Diese Zahlen machen betroffen. Was den Jugendlichen in der Pandemie fehlte, sieht man jetzt an den Erkrankungen. In meiner eigenen Praxis erlebe ich, dass extremere Fälle und mit Zehnjährigen schon bedeutend Jüngere kommen.
Was haben die letzten Jahre für Jugendliche bedeutet?
Mädchen, die heute 15 bis 17 sind, standen zu Beginn der Pandemie am Übergang von der Kindheit zur Pubertät. Das ist ohnehin eine sensible Phase. Durch die körperlichen und seelischen Veränderungen sind Körpergefühl und Selbstvertrauen besonders leicht zu erschüttern. Deshalb ist in der Jugend das Risiko für eine Essstörung am höchsten.
Und welchen zusätzlichen Einfluss hatte die Pandemie darauf?
In dieser Umbruchszeit ist eine äußere Struktur wichtig: Schulbesuch, Sportverein, Treffen mit Freunden. Bricht das weg, ist die Verunsicherung umso größer. Pubertät bedeutet die Suche nach Orientierung und Bestätigung, vor allem durch Gleichaltrige. Gleichzeitig geht es auch um Abgrenzung von den Eltern. Beides wurde durch Lockdown und Home Schooling erschwert.
Welche besonderen Funktionen hatte Essen denn in der Pandemie?
Für Jugendliche kann es eine Abgrenzungsmöglichkeit sein, mit familiären Ernährungsgewohnheiten zu brechen. Das vermittelt ein Gefühl von Autonomie. Vielleicht ist da auch die Fantasie, sich über das Essen eine eigene Struktur und Kontrolle zu geben. Wenn ich nur zu Hause sitze, habe ich zumindest auf meine Ernährung, meinen Körper noch Einfluss: indem ich nur zu bestimmten Zeiten esse, nur spezielle Lebensmittel, Tipps von Influencerinnen befolge … Der Gedanke kann auch sein: Wenn ich die Lockdown-Zeit wenigstens nutze, um meinen Körper zu optimieren, dann hat das irgendwie einen Sinn.
Zum anderen wird Essen auch dazu eingesetzt, Emotionen zu regulieren: Gefühle wie Frust, Stress, Traurigkeit, Einsamkeit oder Langeweile werden durch Essen kompensiert, auf das ich zu Hause ständig Zugriff habe. Oder ich achte gar nicht mehr darauf, ob ich nebenbei esse, zum Beispiel vor dem Bildschirm, beim Daddeln. Unter bestimmten Umständen kann sich daraus eine ernsthafte Erkrankung entwickeln.
Welche Rolle spielten Medien und Online-Zeiten?
Wenn ich kaum Kontakt zu Gleichaltrigen habe und sowieso schwierige Zeiten erlebe, verkrieche ich mich leichter in eine virtuelle Welt.
Auf der Suche nach der eigenen Identität orientieren sich Jugendliche normalerweise an ihrer Peer-Group. Weil es in der Pandemie aber weniger reale Begegnungen gab, wurden virtuelle Vorbilder umso wichtiger, beispielsweise Influencerinnen. Sie lassen ihre Follower vermeintlich an ihrem Alltag teilhaben und wirken dadurch fast wie Freundinnen. Deshalb sind die Jugendlichen für Fitness-Tipps, Ernährungsregeln oder Schönheitseingriffe umso empfänglicher. Dabei ist nachgewiesen, welche negativen Auswirkungen das Betrachten von Bildern in sozialen Medien auf das Körpergefühl hat.
Nun gibt es wieder Präsenzunterricht, Vereine, Clubs sind geöffnet. Wie geht es Jugendlichen jetzt?
Die Jugendlichen versuchen an ihr altes Leben anzudocken – das gibt es aber nicht mehr, weil sie sich verändert haben. Sie müssen sich neu definieren und probieren sich aus: „Was haben die anderen an? Kann ich bauchfrei tragen? Wie sexy bin ich? Was erlauben meine Eltern?“ Es gab diesen Bruch und keinen fließenden Übergang. Man muss sich vorstellen: Ein heute 8-jähriges Kind war ein Viertel seines Lebens im Lockdown! Wichtig ist dabei, wie stabil seine Persönlichkeit ist.
Was können Lehrkräfte tun?
Das Wichtigste ist es, Raum zu geben für die persönliche Entwicklung, die in Teilen nachgeholt werden muss. Der Fokus darf nicht nur auf Leistung und Zensuren legen, auch wenn jetzt die Lücken im Lernstoff auffallen. Schulen müssen versuchen nachzufördern, durch Projekte, die die sozial-emotionale Entwicklung stärken. Wenn ein gutes Klassenklima herrscht, wird auch wieder besser gelernt.
Wie gelingt das?
Eine starke Persönlichkeit entwickeln Heranwachsende, wenn sie sich in ihren Fähigkeiten ausprobieren und eine Verbindung zu sich selbst und anderen aufbauen können, zum Beispiel bei Sport-, Spiel- oder Kreativangeboten, Schreibprojekten, Tanzen, Theaterspielen … All das stärkt das Selbstvertrauen, das Miteinander und hilft, Stärken und Schwächen einzuschätzen. Das kann auch zu einem positiveren Umgang mit dem eigenen Körper und Essen beitragen.
Wie kann eine Ansprache in der Schule aussehen?
Wichtig ist hinzuschauen: Das eine Kind war vielleicht immer lebenslustig und ist jetzt verschlossen. Ein anderes war sozial verträglich, ist nun ständig aggressiv. Da ist es sinnvoll, das Gespräch zu suchen – nicht als Vorwurf, sondern als Beobachtung: „Mir fällt auf …“. Vielleicht möchten die Jugendlichen sich der Klassenlehrerin nicht öffnen, merken aber: „Ich bin es wert, dass man sich Gedanken um mich macht.“ Oder: „Hm, das ist schon die vierte, fünfte, sechste Person, die mich anspricht – vielleicht ist ja doch etwas dran?“
Erleben Sie diese Entwicklung auch bei Ihren Präventionsprojekten?
Eindeutig ja, wir können die Bedarfe kaum beantworten. Bei unserem Programm „Kribbeln im Bauch“ für 9. Klassen haben wir erlebt, dass die ersten, die nach dem Lockdown zurückkamen, überhaupt keine Klassenkultur mehr hatten. Sie haben sich nicht ausgetauscht, es gab viele Konkurrenzkämpfe, denn all das fiel ja vorher flach.
Und was können Eltern beitragen?
Als Elternteil muss ich mir überlegen: Wo kann ich mein Kind stützen? Dazu gehört auch, sich ehrlich zu fragen: Wie gehe ich selbst mit den vielen Krisen um? Hat mein Kind das Gefühl, dass ich stabil bin, ihm die Zuversicht vermittle: „Wir kommen da durch“? Oder bin ich selbst ständig in Sorge und gestresst? Auch mein Verhältnis zu Essen und Figur kann ich reflektieren. Mache ich vielleicht selbst ständig Diäten und vermittle, dass ich mich in meinem Körper nicht wohlfühle?
Was kann ich tun, wenn ich das Gefühl habe, mein Kind hat Probleme?
Wenn sich Sohn oder Tochter anders verhalten und ich das Gefühl habe, da stimmt etwas nicht, dann sollte ich das Gespräch suchen – ohne Diagnosen zu stellen. Es ist erstmal egal, ob es um Angstzustände, eine Depression oder eine Essstörung geht. Ich kann mich rantasten mit Worten wie: „Ich merke, du hast dich verändert – was hast du? Was brauchst du?“ Auch wenn sich viele Jugendliche in der Pubertät abkapseln, sind Gesprächsangebote und Offenheit wichtig. Das Kind darf sich nicht alleine fühlen mit seinen Problemen.
Und wenn ich doch vermute, dass es sich um eine Essstörung handelt?
Dann kann ich einen Termin beim Haus- oder Kinderarzt ausmachen um abzuklären, ob es gefährlich werden kann. Wenn ja, ist die Frage: Wo kann ich Hilfe bekommen? Vielleicht hat die Arztpraxis eine Empfehlung. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung stellt Adressen bereit, ich kann mich an eine Ambulanz in Kliniken wenden oder an Selbsthilfegruppen – hier in Bremen der Elternkreis essgestörter Töchter und Söhne. Das Wichtigste ist, dass ich jemanden finde, der sich mit Essstörungen auskennt und dem ich vertraue.
Und wenn eine Therapie nötig ist?
Es gibt ohnehin einen Riesenbedarf an Fachleuten für Esssstörungen und Therapieplätzen – das hat sich noch verstärkt. Laut der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) liegen die Anfragen für einen Therapieplatz für Kinder und Jugendliche immer noch um die Hälfte über dem Niveau von vor der Pandemie.
Wo ist die Politik gefragt?
Sie darf angesichts dieser Zahlen die psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen nicht vernachlässigen. Die Bedarfsplanung und das ambulante Versorgungsangebot muss weiterentwickelt werden, insbesondere die niederschwellige Beratung. Denn es ist auf allen Ebenen wichtig frühzeitig zu reagieren, bevor sich eine Essstörung manifestiert.
Margrit Hasselmann Therapeutin für Essstörungen und Buchautorin („Das eigene Maß“, edigo 2022) war Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung und hat Präventionsprojekte an Schulen initiiert und begleitet.